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Barrierefreiheit in Deutschland – Noch ein halbes Jahr bis Inkrafttreten von § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG

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Noch ein halbes Jahr bis Inkrafttreten von § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG (Personenbeförderungsgesetz) – Wie barrierefrei ist Deutschlands Nahverkehr?

Wenn Sie keine Behinderung haben, sich noch nie ein Bein gebrochen haben oder mit einem Kinderwagen unterwegs waren, sagt Ihnen § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG vielleicht nicht viel. Für die 7.9 Millionen in Deutschland lebenden anerkannten schwerbehinderten Menschen und alle anderen Personen, die täglich oder temporär mit den Hürden des Alltags zu kämpfen haben, verspricht dieser Paragraph allerdings ein Stück mehr Freiheit, denn er legt fest, dass der deutsche Nahverkehr bis zum 1. Januar 2022 vollständig barrierefrei sein muss.

Was ‚barrierefrei‘ eigentlich heißt und welche Bedeutung das für Verkehrsanbieter und -teilnehmer hat, klären wir in diesem Artikel.

Barrierefreiheit in Deutschland – Wer ist „mobil eingeschränkt“?

Wenn eine Person aufgrund einer Behinderung (sensorisch oder motorisch, dauerhaft oder temporär) Schwierigkeiten dabei hat, öffentliche Transportmittel und die dazugehörige Infrastruktur zu nutzen, gilt sie als „mobil eingeschränkt“.

Doch eigentlich wird es Zeit, dass wir das Bild umdrehen und anerkennen, dass es die Umgebung, nicht eine Behinderung, ist, die eine Person in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Keinem Menschen sollte aufgrund seiner Eigenschaften eine ‚normale‘ Teilhabe am öffentlichen Leben verwehrt bleiben. Wie auch in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes festgelegt, darf niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden.

Auf den Bereich der alltäglichen Mobilität trifft das besonders zu, da Mobilitätsmöglichkeiten die Lebensqualität von Individuen entscheidend beeinflussen. Höchste Zeit also, dass Verkehrsanbieter, Städte und Gemeinden das Thema „Barrierefreiheit“ priorisieren, denn es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, auch den Schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft echte, unkomplizierte Teilhabe zu ermöglichen.

Darüber hinaus wäre es falsch, das Thema „Barrierefreiheit“ als Nischenthema zu betrachten, denn eine körperliche Einschränkung kann alle betreffen: ältere Menschen, die nicht mehr gut Treppen steigen können, Jugendliche, die sich beim Sport verletzt haben, junge Eltern, die sich mit einem Kinderwagen abmühen müssen und so weiter.

Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen hat errechnet, dass etwa 30 % der Gesamtbevölkerung zeitweise als „mobil eingeschränkt“ gelten kann. Das macht einmal mehr deutlich: Das Thema „Barrierefreiheit im ÖPNV“ muss ein zentrales Thema für alle  Akteure im Personentransport sein.

Barrierefreiheit in Deutschland – Was ist unter einem ‚barrierefreien ÖPNV‘ zu verstehen?

Im Jahre 2013 wurde das Personenbeförderungsgesetz novelliert und festgelegt, dass ab dem 1. Januar 2022 der deutsche Nahverkehr ‚barrierefrei‘ sein muss, also, dass Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, den öffentlichen Nahverkehr nutzen können, ohne dabei auf Hilfe von Dritten angewiesen zu sein. Laut UN-Behindertenrechtskonvention beschreibt ‘Barrierefreiheit‘ den „Gleichberechtigten Zugang zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, […] sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit […] offenstehen […].“

Vier Segmente müssen dabei in Bezug auf den öffentlichen Nahverkehr besonders beachtet werden: die bestehende Infrastruktur (z. B. Haltestellen), die Fahrzeuge und ihre Ausstattung, der Service (Kommunikation, Information), und die Hilfestellungen während des Betriebs (z. B. geschultes Servicepersonal).

Werden diese Segmente an die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasst, bestehen keine oder kaum noch Barrieren, um mit dem ÖPNV ohne fremde Hilfe unterwegs zu sein.

Barrierefreiheit in Deutschland – Umfrage: Mobilität von Personen mit Behinderungen

Und auch wenn es Bestrebungen gibt, die Situation für so viele Menschen wie möglich zu verbessern, ist es wichtig, Personen mit eingeschränkter Mobilität selbst zu fragen, wie ihr Mobilitätsverhalten angenehmer gestaltet werden kann. Daher bemühen wir uns bei Padam Mobility darum, regelmäßig mit den betroffenen Personen und ihrem Umfeld in Kontakt zu kommen und herauszufinden, welche digitalen Lösungen geschaffen werden sollten, um das barrierefreie Reiseerlebnis weiter zu verbessern.

Auch Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sind herzlich dazu eingeladen, an unserer aktuellen Umfrage zum Thema „Mobilität von Personen mit Behinderungen“ teilzunehmen oder diese an Betroffene weiterzuleiten. Die Umfrage ist anonym und DSGVO-konform. Wenn Sie mögen, können Sie aber auch Ihre Kontaktdaten hinterlassen, damit wir Sie zum Thema noch einmal genauer befragen können. Selbstverständlich sind alle Angaben freiwillig. Über Ihre Teilnahme würden wir uns sehr freuen!

Barrierefreiheit in Deutschland – Wie weit reicht die Gesetzesänderung?

Die Formulierung des Ziels, einen ‚barrierefreien Nahverkehr‘ zu gewährleisten, scheint ein Schritt in die richtige Richtung zu sein: allen Menschen soll eine Stimme gegeben werden, eine inklusive Gesellschaft soll gefördert werden.

Der Verband der TÜV e.V. merkt in einem Vortrag des 3. Forum Mobilität – für Menschen mit Behinderung jedoch kritisch an, dass der Gesetzgeber mit der Novellierung des Personenbeförderungsgesetz keine neuen inhaltlichen oder technische Vorgaben macht. Barrierefreiheit bleibe ein „Prozess der Annäherung an ein Ideal“, vollständige Barrierefreiheit sei nicht umsetzbar und damit auch nicht reglungsfähig.

Hinzukommt, dass vielerorts die geeigneten finanziellen Mitteln fehlen, um weitreichende Umbaumaßnahmen von Infrastrukturen und Fahrzeugen stemmen zu können. Eine ungleiche Aufteilung der Ressourcen könnte dazu führen, dass die weiter oben angesprochenen Segmente nicht aufeinander abgestimmt werden. Eine barrierefreie Haltestelle bringt nichts, wenn das anrückende Fahrzeug keinen behindertengerechten Einstieg hat.

Sicherlich muss angemerkt werden, dass „Barrierefreiheit“ subjektiv ist und es kaum möglich sein wird, jedes Hindernis zu überwinden. Es muss jedoch das Ziel sein, Möglichkeiten zu schaffen, betroffene Menschen aktiv in den Prozess zu mehr Barrierefreiheit einzubeziehen, Inklusion aktiv zu fördern, statt nur davon zu reden.

Barrierefreiheit in Deutschland – Was bedeutet die Gesetzesnovelle für Demand-Responsive Transport (DRT)-Services?

Das novellierte Personenbeförderungsgesetz umfasst nicht nur „klassische“ Formen des öffentlichen Nahverkehrs, sondern schließt auch Bedarfsverkehre mit ein. Auch hier sind Betreiber in der Pflicht, einen barrierefreien Zugang ab dem 1. Januar 2022 zu gewährleisten. Konkret heißt das, dass On-Demand-Dienste ab einer Flottengröße von 20 Fahrzeugen mindestens zu 5 % mit einem barrierefreien Zugang ausgestattet sein müssen. Diese Reglung könnte besonders in kleineren Gebieten, in denen häufig weniger DRT-Fahrzeuge eingesetzt werden, dafür sorgen, dass Anbieter ihren Fuhrpark kaum entsprechend anpassen müssen.

Unabhängig von den Fahrzeugen, ist natürlich auch der Aspekt ‚digitale Schnittstellen‘ ein wichtiger Punkt, der bei der Diskussion um Barrierefreiheit nicht vernachlässigt werden darf. Die meisten DRT-Services lassen sich über eine Applikation oder Website buchen, was kein Ausschlusskriterium für z. B. Sehbehinderte Menschen sein darf. Wichtige Merkmale von barrierefreien Angeboten umfassen z. B. die flexible Darstellung von Inhalten, also die Möglichkeit, Schriftgröße und -farbe oder auch Kontraste anpassen zu können. Ebenso hilfreich sind Funktionen der Sprachsteuerung, gesprochene Inhalte und eine einfache Navigation sowie leicht verständliche Sprache.

Gleiche Standards sollten übrigens auch für Drittanbieter, z. B. Zahlungsmodule, die in die DRT-App eingebunden sind, gelten.

Barrierefreiheit in Deutschland – Wo werden wir in einem halben Jahr stehen: ein Ausblick

Ob der öffentliche Nahverkehr Anfang des kommendes Jahres vollständig barrierefrei sein wird, ist aufgrund der beschriebenen Anforderungen zu bezweifeln, dafür ist der Aspekt der Barrierefreiheit zu allumfassend, zu kostspielig und häufig ein subjektives Empfinden.

Jedoch sollten diese Argumente keine Ausflüchte sein, das Thema nicht viel stärker in den Vordergrund zu rücken. Mobilität ist ein Grundbedürfnis und sollte niemanden aufgrund einer Einschränkung verwehrt bleiben.

Die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Und auch wenn es Ausnahmereglungen geben wird und nicht alle Hindernisse überwunden werden können, werden Aufgabenträger dadurch in die Pflicht genommen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, Betroffene und Behindertenverbände anzuhören, Lösungsansätze zu suchen.

Das Ziel, Barrierefreiheit zu schaffen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die Kommunikation darüber der erste Schritt. Daher an dieser Stelle noch einmal der Hinweis auf unseren Fragebogen. Wir freuen uns sehr darauf, Ihre Meinung zu hören und auf Basis wichtiger Hinweise relevantere digitale Lösungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu entwickeln.

 

 

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